Gastbeitrag: Estland – “Minimalistic Heaven” für Startups und Investoren?!

Wir haben Gastautor und Rechtsanwalt Jan Schnedler auf seiner Reise nach Estland begleitet und wollen Ihnen seinen Erfahrungsbericht natürlich nicht vorenthalten. Demnach heute mal wieder etwas Exotisches zum Nachdenken. Also bitte Jan:

Estland ist nicht irgendein Land, das nur einige Angelegenheiten etwas digitaler macht als andere Länder. Estland ist “the place to be right now”. Uns Deutschen fällt es schwer sich vorzustellen, was Estland bereits geschafft hat und was in den nächsten Monaten und Jahren noch kommen wird. Dabei wirken die Esten manchmal so, als wüssten sie nicht, was Besonderes in ihrem Land passiert. Marketing für Estland machen meist andere: Diejenigen, die dort zu Besuch waren, die verschiedenen Show-Rooms, Labs, Startups und Acceleratoren besucht und mit Unternehmern und Politikern gesprochen haben.

Es ist kein Zufall, dass Estland eine der höchsten Gründungsraten pro Kopf in Europa hat. Die durchschnittliche Zahl von Startup-Gründungen in Europa liegt bei fünf per 100.000 Einwohner. Die Zahl in Estland ist sechsmal höher als dieser europäische Durchschnitt, womit Estland mit aktuell ca. 450 Startups den dritten Platz in Europa einnimmt!

Estland hat ein Klima für Startups geschaffen, das es wohl nur einmal auf der Welt gibt. Dies trägt bereits Früchte. Estland ist derzeit –wie kaum ein anderes Land – einer der Geburtsorte von Unicorn Startups. Startups also, die nicht an der Börse gelistet sind und deren Bewertung über einer Milliarde Dollar liegt. Im Moment gibt es vier davon: Skype, Playtech, TransferWise und Taxify. Es werden aber bald weitere folgen, ein sehr vielversprechender Kandidat ist z.B. das Lieferroboter-Startup Starship Technologies. Je nachdem, welche Definition verwendet wird, hat Deutschland mit einer Bevölkerung die Estland um ca. 80 Millionen Bürger übersteigt nach den Börsengängen von Zalando und Rocket Internet ungefähr genauso viele Unicorns.

Was macht Estland im Startup-Bereich anders?

Im Global Startup Ecosystem Report 2017 heißt es dazu: „Estlands Mischung aus intelligenter Infrastruktur, grenzüberschreitenden Visa-Programmen und Startup-Solidarität garantiert der Welt, dass es uns mehr wegweisende Technologien bringen wird, wie Estland es mit Skype getan hat und jetzt auch mit Transferwise tun“.

Im Folgenden habe ich zehn Beispiele aufgeführt, warum sich Gründer und Investoren genauer mit Estland beschäftigen sollten:

  1. Früh übt sich. Esten werden ermutigt, Techies zu werden. Kinder in der Grundschule haben Computerunterricht, Programmierungskurse und in ausgewählten Gymnasien wird sogar gelehrt, wie man Blockchain Apps baut! Schüler haben Unterricht in Startup-Zentren, z.B. im Technologiepark Spark in Tartu. Seit 1999 sind alle estnischen Schulen ans Internet angeschlossen und es werden fast überall digitale Klassenbücher genutzt. Auch die Universitäten beziehen bereits die Kleinsten ein. Am MEKTORY (Modern Estonian Knowledge Transfer Organisation foR You) der Technischen Universität Tallinn gibt es ein von Lego gesponsertes Lab, in dem Lego-Serious-Play/Robotics gespielt wird. Nicht von Managern wie in Deutschland, sondern von vier bis siebenjährigen Kindern. An der Technischen Universität Tallinn ist mit Studenten auch ein eigener Satellit entwickelt worden, der im Januar 2019 in die Umlaufbahn der Erde geschossen wird. Dies ist aber auch nicht der erste “Studenten-Satellit” aus Estland, bereits 2013 ist der „ESTCube-1“ Satellit, ein Projekt der Universität von Tartu ins All geschossen worden. Laut der aktuellsten PISA-Studie der OECD sind estnische Kinder auf Platz 1 in Europa und Platz 3 in der Welt.
  1. Startup-Visa. Das estnische Startup-Visum richtet sich an Gründer aus Nicht-EU-Ländern, die in Estland vor Ort arbeiteten wollen. Im Rahmen des Startup-Visa-Programms wird ein Startup definiert als: ein Unternehmen mit dem Ziel, ein innovatives und wiederholbares Geschäftsmodell mit großem globalen Wachstumspotenzial zu entwickeln und zu lancieren, das auch wesentlich zur Entwicklung des Geschäftsumfelds in Estland beiträgt. Über die Erteilung eines Visums wird von einer Kommission im Einzelfall entschieden und wer sitzt in dieser Kommission: andere Entrepreneure. Im Moment befindet sich auch ein Programm für Digitale Nomaden in der Entwicklung. Damit öffnet sich Estland für die größten ausländischen Talente weltweit und schafft eine Infrastruktur mit hoch qualifizierten und technisch begabten Mitarbeitern für Startups.
  1. Das liberale Steuersystem. Estland hat eines der liberalsten Steuersysteme der Welt und verzichtet auf eine Corporate Income Tax. Der International Tax Competitiveness-Index bezeichnete das Flat-Tax-Steuersystem als das wettbewerbsfähigste Steuersystem in der entwickelten Welt. Einer der wesentlichen Treiber hierfür ist der niedrige Körperschaftsteuersatz von 20 Prozent ohne Doppelbesteuerung von Dividendenerträgen. Estland besteuert nur Gewinne, die an die Gesellschafter ausgeschüttet werden. Wird der Gewinn nicht (z.B. an die Gesellschafter) ausgeschüttet, kann dieser steuerfrei investiert werden. Umsätze, die im Ausland getätigt werden, müssen nicht in Estland, sondern im Ausland versteuert werden. Estland verwendet also ein vereinfachtes Steuersystem und ist damit kein herkömmliches Steuerparadies. Abschreibungen werden noch im selben Jahr in voller Höhe relevant und müssen nicht über Jahre abgeschrieben/gestreckt werden. Durch dieses Steuersystem werden Investitionen in die eigene Geschäftsidee und Startups massiv befeuert. Die Steuererklärung kann derzeit online innerhalb von Minuten eingereicht werden, obwohl mittlerweile schon die völlige Automatisierung der Steuererklärung vorbereitet wird und nächstes Jahr eingeführt werden soll. Dann erhält jeder Este am 01. Januar, ohne selbst aktiv werden zu müssen eine automatisierte Steuererklärung und innerhalb von wenigen Tagen eine Steuererstattung oder Nachzahlungsaufforderung. Natürlich besteht auch weiterhin die Möglichkeit die automatisierte Steuererklärung überprüfen zu lassen.
  1. #estonianmafia. Darüber hinaus arbeitet das Startup-Ökosystem eng mit Regierung, Universitäten, Gründerzentren, Showrooms und Unternehmen zusammen. Wichtig ist dabei zu wissen, dass das Startup-Ökosystem auf der so genannten „Estonian Mafia“ basiert, welche hauptsächlich aus den Skype-Gründern besteht, die ihr Geld aus dem Skype-Exit in andere Startups investiert haben und selbst viele weitere Startups gegründet haben. Die erfolgreichsten Startups sind dafür bekannt, der Community durch Mentoring und Unterstützung kleinerer Startups, verschiedener Events und Startup-Hubs etwas zurückzugeben. Auf Startups wartet eine unglaublich gute Infrastruktur. Es gibt z.B. zwei große Startup-Konferenzen: Die Latitude59 in Tallinn legt den Fokus auf Investor/Startup- Relations. Der sTARTUp-Day in Tartu richtet sich eher an Techies, die mit den ganz großen Startup-Konferenzen mithalten können. In Deutschland habe ich auf noch keiner Konferenz so viele Teilnehmer aus dem Silicon Valley gesehen. Einer der berühmtesten Silicon Valley- Investoren Marc Andreessen (Mitgründer von Netscape) fasste es folgendermaßen zusammen: „Few factors get us as excited as Estonian founders!” An den Universitäten gibt es von Unternehmen und Ländern gesponserte Räume, Labs, Studios, die, wenn sie nicht von den Studenten angenommen werden, dass Universitätsgelände wieder verlassen müssen. China hat z.B. einen traditionellen Raum für Tee-Zeremonien, Finnland eine Sauna mit Schwimmbecken („Suomi Sauna Thinking Space“). Des Weiteren gibt es einen Botanical Garden, eine Rooftop Sweet Factory und einen Mektory Yard als Freizeiträume. Die Räume der Unternehmen sind jeweils mit den neuesten Technologien ausgestattet (Samsung Digital Academy, Ericsson Connectivity Room; Logistics and Supply Chain Management Innovation Lab, Lab „Playful learning“, Bank of Ideas, VR Lab „Re:creation“, Space Centre, Cool Tool Studio, Just a Table and a Chair-room).
  1. Lebensqualität. Während die Lebensqualität in Estland sehr hoch ist, sind die Lebenshaltungskosten gleichzeitig niedrig. Eine Win-Win-Situation! Estland rangiert in Bezug auf Bildung und Qualifikation, Umweltqualität, soziale Verbindungen und Work-Life-Balance nach dem OECD-Index über dem Durchschnitt. Das Bildungssystem ist nachhaltig und wird als eines der besten der Welt eingestuft. Hier werden die vielen technischen Talente und Mitarbeiter der Startups ausgebildet. Estland hat den Internetzugang zum Menschenrecht erklärt. Tallinn gehört zu den am stärksten vernetzten Städten der Welt und bietet fast überall kostenloses öffentliches WiFi. Die Stadt hat mehrere Strände und zudem ist das Leben erschwinglich: Selbst in Tallin gibt es urige bezahlbare Hotels und tolle Restaurants, die Taxis sind günstig, Fahrten mit der Tram kosten einen Euro und sind für Einwohner sogar kostenlos. Der Flughafen ist gut organisiert und bietet kostenfreie Fitnessgeräte und Tischtennisplatten sowie Kokoon-Betten zum Ausruhen mit Steckdose und Anschlüssen für Handys und Laptops an. Für fünf Euro gibt es staatlich subventionierte Handyverträge, natürlich mit unbegrenztem Surfvolumen. In 20 Minuten ist man von jedem Punkt in Estland in der Natur, 51% des Landes sind mit Wald bedeckt und die Luft ist eine der saubersten in der Welt.
  1. European‘s Innovation Playground. Estland ist der perfekte Test- und Erprobungsort von Startup-Ideen, weil eine No-Bullshit- und No-Limit-Mentalität vorherrscht. Auch das estnische Volk denkt unternehmerisch, ist innovativ und extrem offen für Fortschritt und hat hinsichtlich persönlicher Daten Vertrauen in den Staat. Dieses Vertrauen hat sich der estnische Staat über die Jahre aufgebaut. Welche andere Bevölkerung vertraut heutzutage noch dem Staat? Die Digitalisierung ist für viele Esten zum Markenzeichen geworden, auf das sie stolz sind. 150.000 Esten haben Ihre DNA zur Verfügung gestellt. Die DNA-Analysen sind kostenfrei und jeder Bürger hat ein Recht auf eine kostenlose Beratung zu den Ergebnissen der DNA-Analyse. Der Staat ist sehr transparent und jeder Bürger kann jederzeit einsehen, wer, wann auf die eigenen persönlichen Daten zugegriffen hat. Lanciert wird dies durch Gesetze, die unberechtigte Datenzugriffe des Staates oder von Unternehmen unter Strafe stellt. Dabei werden häufig gar keine personenbezogenen Daten bei Anfragen offenbart, sondern die Datenbank antwortet z.B. nur mit „ja“ oder „nein“.

Für uns hört es sich vielleicht etwas merkwürdig an, aber die Esten sagen, dass sie Vertrauen in den Staat haben, da alles so digital, transparent und kontrollierbar ist.

Dieses Vertrauen basiert wahrscheinlich auch darauf, dass das Cyber Security Centre der NATO in Estland beheimatet und eines der größten Themen Estlands Cyber Security ist.

  1. Agile Government. Die estnische Regierung denkt mit, ist agil und nicht nur aufgrund der geringen Größe des Landes schnell. Wenn etwas nicht funktioniert wird es geändert. Die lokale Startup-Gemeinschaft hat, nicht nur dadurch, dass es einen Minister für Entrepreneurship gibt, gute Beziehungen zur Regierung und ihre Stimme wird gehört. Die Regierung tut ihr Bestes, um auf Unternehmer und Startups zu reagieren. „Eines der besten Dinge an Estland für einen Unternehmer ist die kurze Entscheidungskette. Vor zwei Jahren schrieb ich einen Blog-Beitrag darüber, warum Gründer keine Unternehmen in Estland gründen wollen, und innerhalb von zwölf Monaten wurde ein Paket von Gesetzesänderungen im Parlament verabschiedet, das genau diese Fragen behandelte. Eine solche Agilität kann man nirgendwo sonst auf der Welt sehen“, schwärmte einer der bekanntesten Mitglieder der lokalen Startup-Community, der Gründer von Teleport und ehemaliger Leiter von Skype Estland, Sten Tamkivi. Ein anderes Beispiel für die Beweglichkeit des Staates bei gleichzeitiger Wahrung der Datensicherheit ist, dass die E-Residency-Card persönlich, z.B. in einer Botschaft abgeholt werden muss. Dies wird als ein wichtiges vertrauensbildendes Element in der virtuellen Gesellschaft angesehen. Problematisch ist dieses Vorgehen, da das kleine Estland nicht überall auf der Welt Botschaften hat, z.B. gibt es derzeit keine Botschaft in Südamerika. Aktuell werden weltweit weitere Abholstellen eingerichtet. In Hamburg gibt es eine Vertretung von Invest-Estonia, die von Riina Leminsky geleitet wird. Riina hat Hamburger Startup-Unternehmer, Wirtschaftvertreter und Professoren nach dem Kennenlernen sofort nach Estland eingeladen und alle Türen geöffnet, so dass wir an der Startup-Konferenz „sTARTUp-Day 2019“ teilnehmen konnten und Politiker, Startups, Institute und Acceleratoren treffen konnten. Riina und Estland waren unglaublich offene Gastgeber: Es sind Freundschaften und sehr wertvolle Kontakte entstanden. Das ganze Land hat eine Just-do-it-Mentalität. Im restlichen Europa hat man häufig eher das Gefühl, dass es sich um eine Don´t-do-it-Mentalität handelt.

Estland ist auch das erste Land, das einen Gesetzesentwurf verfasst hat, der den Status von Künstlicher Intelligenz (KI) in einer rechtlichen Auseinandersetzung regeln soll. Es gibt zwei diskutierte Alternativen: Entweder soll die Künstliche Intelligenz bzw. ein so genannter Robot Agent eine eigene rechtliche Persönlichkeit erhalten, wie z.B. eine GmbH oder die KI wird als ein Objekt definiert, das jemandem gehört, der für dieses Objekt verantwortlich ist.

Seit Anfang 2017 ist in Estland die gesetzliche Grundlage für selbstfahrende Autos im Straßenverkehr geschaffen worden.

  1. Standard-Startup-Verträge. Startup Estonia und die Estonian Private Equity and Venture Capital Association (EstVCA) haben alle relevanten branchenüblichen Rechtsdokumente erstellt und stellen diese auf der Webseite http://startupestonia.ee/resources kostenlos zur Verfügung. Die Verträge können online kommentiert werden, damit diese stetig verbessert werden.
  1. E-Services und einfache Geschäftsabwicklung. Die E-Government-Lösungen sind erstklassig! Estland bietet derzeit über 600 elektronische Dienste für Bürger und 2400 für Unternehmen an. In Estland geht alles online und sehr schnell. Haftungsbeschränkte Firmengründung sind online innerhalb von 15 Minuten möglich – auch für (EU-) Ausländer, wenn sie zunächst eine E-Residency beantragt haben. Es gibt bereits über 35.000 E-Residents aus 143 Ländern, die diese „virtuelle“ Staatsbürgerschaft haben. Eine Steuererklärung kann innerhalb von 3 Minuten eingereicht werden. Das Startup LeapIN bietet eine schlüsselfertige Lösung zum Aufbau eines standortunabhängigen Unternehmens mit einem Bankkonto an. Für 59 bis 99 Euro im Monat erledigt LeapIN auch die Gesellschaftsgründung, Buchhaltung, Rechnungserstellung, Steuererklärung und Compliance.

Jeder Este hat eine ID-Card, Ausländer können die E-Resident-Card beantragen. Mit der ID-Card kann fast alles online erledigt werden: Firmengründungen, Fahrkartenkauf, Einreichen der Steuererklärung, Abrufen von Rezepten und Arztbefunden, Wählen, Banking, Bücherausleihe, Eigentumsübertragung von Fahrzeugen und Nutzung anderer KfZ-Dienstleistungen. Sie dient aber u.a. auch als Ausweis, Fahrerregisternachweis, Reisedokument, Krankenkarte, Verschlüsselungstool und digitale Signatur.

Estland ist dazu übergegangen die Schnittstellen dieser Karte für Unternehmen zu öffnen, so dass mit weiteren Funktionalitäten zu rechnen ist. Treuepunkte im Supermarkt kann man bereits sammeln. Darüber hinaus wird gerade eine Community-Plattform entwickelt, die aufgrund der Datenbasis und der angebundenen Services sehr viel besser und funktionaler als Facebook werden könnte.

  1. A small Country needs to think big. Estland hat nur ca. 1,3 Millionen Bürger und ist damit ein sehr kleines Land. Der Nachteil des kleinen estnischen Heimatmarkt (Bruttoinlandsprodukt 20.659 Millionen Euro), ist aber eher ein Vorteil. Er führt dazu, dass die Startups sofort andere Märkte erschließen müssen und viel schneller internationalisieren. Esten denken daher zuerst global. Dabei hilft, dass die Arbeitssprache in der Regel Englisch ist.

Gibt es auch Gründe, die gegen Estland sprechen? Ich habe lange nachgedacht: Moskitos. Ansonsten werden die meisten Probleme durch die Gesetze anderer Länder verursacht.

Der Autor Jan Schnedler ist Startup-Anwalt und hat das Buch Startup Recht geschrieben. Die Eindrücke aus Estland hat er auf einer Delegationsreise nach Tallinn und Tartu gewonnen, an der auch Hamburger Professoren, Startup-Unternehmer, Familienunternehmer und die Innovations Kontaktstelle teilgenommen haben.

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